Montag, 25. April 2011
Der Frühlingsmorgen
Duftig in lauterer Bläue zerfloß wie
Silber das Frühroth,
Und schon sonniger glomm mit farbigem
Thaue der Garten:
Als im weißen Gewand', ihr braungerin-
geltes Haupthaar
Halb zerstreut um den Nacken, mit zier-
lichem Ramen und Nähkorb
Selma, glühend die Wang', in die Gatter-
pforte hereintrat.


Leicht wie ein spielender Fisch in der Flut,
so schwebte die Jungfrau
Durch den erfrischenden Duft, und freu-
diger glänzten die Äuglein
Unter dem Hut, und durchflogen mit
herschendem Blick die Gefilde.
Denn sie hatt' ihn im Traume gesehn,
den edlen Selino,
Ach so hell, und so lang', unerweckt von
ängstlicher Sehnfucht!
Als sie das schöne Geräth auf den steiner-
nen Tisch in der Laube
Niedergelegt, umging sie der Blumen-
beete Gefunkel,
Wo des Frühlinges Pracht hier blühete,
dort ungefärbt noch
Knospete, dort rothschwellend der Keim
aus dem Lockeren vordrang:


Tulpen, die vielfach gestreift den ge-
schloßenen Kelch an dem Lichtstral
Öfneten, buntes Aurikelgemisch, und
bräunlicher Goldlak,
Primel und gelbe Narciß’ und Hepatika,
samt Hyacinthen
Jeglicher Färb', und süßes Geruchs, in
holder Verwirrung,
Eine der schöneren nun, voll pfirsich-
blütener Glöcklein,
Pflückte sie, und die Aurikel, mit staubi-
ger Grüne gerändet;
Sammelte dann sich Violen im Than
am Rosengelender,
Band mit Seide den Strauß, und schmück-
te den wallenden Busen;
Neigte das Haupt aufathmend, und lächel-
te...

(Der Beginn von Johann Heinrich Voss:
Idyllen, Königsberg 1801)

S. a.: http://gutenberg.spiegel.de/autor/613
Der Frühlingsmorgen

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