Montag, 1. Juni 2009
Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse (Zitat)
Die Unmöglichkeit, mich an wirk-
liche Wesen zu wenden, trieb mich in das Land der
Träume hinaus, und da ich nichts Seiendes entdeckte, das
meiner Trunkenheit würdig gewesen wäre, nährte ich sie
in einer idealen Welt, die meine schöpferische Phantasie
gar bald mit Wesen nach meinem Herzen bevölkert hatte.
Noch niemals ist mir eine solche Zuflucht mehr zustatten
gekommen, und niemals war sie fruchtbarer gewesen.
In meinem dauernden Überschwang berauschte ich mich
in vollen Zügen an so herrlichen Gefühlen, wie sie nie-
mals ein sterbliches Herz erfüllt haben. Das menschliche
Geschlecht völlig vergessend, schuf ich mir eine Schar
vollkommener Wesen, an Tugend und Schönheit gleich
himmlisch, treue, verläßliche, zärtliche Freunde, wie ich
sie hienieden niemals gefunden hatte. Es bereitete mir
einen so tiefen Genuß, derart inmitten der reizvollen
Gegenstände, mit denen ich mich umgeben hatte, durch
alle Himmel zu schweben, daß ich dabei Stunden und
ganze Tage verbrachte, ohne auf die Zeit zu achten; ich
verlor die Erinnerung an alles andere so völlig, daß ich,
sobald ich hastig einen Bissen hinuntergeschlungen hat-
te, vor Ungeduld verging, davonzulaufen und meine
Haine wiederzufinden. Wenn ich, im Begriff, nach meiner
, verzauberten Welt aufzubrechen, unglückselige Sterb-
liche herankommen sah, deren Erscheinen mich auf die
Erde bannte, so konnte ich meinen Verdruß weder mäßi-
gen noch verbergen; nicht mehr Herr meiner selbst, be-
reitete ich ihnen einen so schroffen Empfang, daß er
fast grob genannt zu werden verdiente. Das vergrößerte
nur meinen Ruf als Menschenfeind, während es mir doch,
hätte man tiefer in mein Herz geblickt, einen recht ent-
gegengesetzten hätte eintragen müssen.
...
Alles schien sich zu verbinden, um mich meinen süßen
törichten Träumereien zu entreißen. Ich war von meinem
Anfall noch nicht wiederhergestellt, als ich ein Exemplar
des Gedichts auf die Zerstörung Lissabons erhielt, das
mir, wie ich vermutete, von seinem Verfasser übersandt
worden war. Dieser Umstand legte mir die Verpflichtung
auf, ihm zu schreiben und etwas über sein Werk zu sagen.
Ich tat es in einem Briefe, der später gedruckt worden
ist, und zwar ohne meine Einwilligung, wie ich gleich aus-
führen werde.
Betroffen, den armen, sozusagen von Ruhm und Reich-
tum niedergedrückten Mann dennoch bitterlich wider das
Elend dieses Lebens eifern und stets singen zu hören, daß
im Diesseits alles grundschlecht sei, faßte ich den unsinni-
gen Plan, ihn zur Einkehr in sich selbst zu zwingen und
ihm zu beweisen: alles sei gut. Obgleich es den Anschein
hat, als habe Voltaire stets an Gott geglaubt, hat er es
in Wahrheit doch immer nur an den Teufel getan, da sein
vermeintlicher Gott ja ein bösartiges Wesen ist, das ihm
zufolge nur am Schaden Freude empfindet. Die in die
Augen springende Absurdität dieser Auffassung ist vor
allem an einem von allen Glücksgütern überhäuften
Manne abstoßend, der, im Schöße des Glücks schwelgend,
seine Mitmenschen durch die grausame und schauerliche
Schilderung aller der Nöte, von denen er verschont blieb,
zur Verzweiflung zu bringen trachtet. Mehr denn er be-
rechtigt, die Übel des menschlichen Lebens zu zählen und
zu wägen, unterzog ich sie einer billigen Prüfung und
bewies ihm, daß von allen diesen Übeln nicht ein einzi-
ges der Vorsehung zur Last falle, sondern daß aller
Quelle mehr in dem Mißbrauch zu finden sei, den der
Mensch mit seinen Gaben getrieben, als in der Natur sel-
ber. Ich benahm mich gegen ihn in diesem Brief mit aller
nur denkbaren Rücksicht, Achtung, Schonung und, ich
darf auch sagen, mit aller Ehrfurcht. Da mir jedoch seine
leicht verletzliche Eigenliebe bekannt war, sandte ich
diesen Brief nicht unmittelbar an ihn, sondern an den
Doktor Tronchin, seinen Arzt und Freund, mit der Wei-
sung und Vollmacht, ihn zu übergeben oder zu verschwei-
gen, wie es ihm irgend angemessen erscheinen würde.
Tronchin übergab den Brief. Voltaire antwortete mir mit
wenigen Zeilen, er müsse, da er selber krank und dazu
noch Krankenwärter sei, die Erwiderung auf eine andere
Zeit verschieben, und äußerte sich über den Gegenstand
selber überhaupt nicht. Tronchin übersandte mir diesen
Brief und sprach in seinem Begleitschreiben recht wenig
achtungsvoll über den Mann aus, der ihn ihm übergeben
hatte.
Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse (Zitat)

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