Mittwoch, 16. September 2009
Was ist Gnosis? (Teil 2)
Dieser lebendige Kosmos aber ist nach der Lehre des
Aristoteles ein wunderbar geordnetes Stufenreich. Die
unterste Stufe bildet die tote Materie mit ihren vier Ele-
menten Erde, Wasser, Luft und Feuer. Darüber erhebt
sich die Welt der Organismen, die nach Formen und
Zwecken geordnet ist. Die niederen Organismen sind immer
um der höheren willen da, die Pflanzen um der Tiere,
die Tiere und die Pflanzen um des Menschen willen. Das
Prinzip der Formgebung und der Zwecksetzung ist dabei
die Seele, die sich von den niedersten bis zu den höchsten
Stufen in immer vollkommeneren Formen entfaltet und
sich zu den Körpern wie die Form zum Stoff verhält;
denn sie gibt dem Körper von innen heraus als sein Le-
ben die Form, sie ist eine Entelechie oder, wie Goethe es
ganz im Sinne des Aristoteles ausdrückt, der Körper ist
durch die Seele „geprägte Form, die lebend sich ent-
wickelt". Sie ist die bewegende Ursache des Körpers eben-
so wie sein Zweck, das in jedem Organismus lebendige
Bild des, das er werden soll.
Daher unterscheiden sich auch die Organismen vonein-
ander nach ihrer Seele. In der Pflanze ist die Seele eine
vegetative, die allein der Ernährung und der Fortpflanzung
dient. Im Tier tritt zu dieser Ernährungsseele die Sinnen-
seele hinzu mit Tastsinn, Geruch, Geschmack, den Empfin-
dungen und Begierden und der Fähigkeit der selbständigen
Bewegung im Räume. Im Menschen verbindet sich mit bei-
den die denkende Seele mit Sprache und Vernunft, derLogos.
Nur der denkende Teil der Seele, der Geist, ist unsterblich,
und auch dieser nicht ganz; denn er spaltet sich in einen
leidenden, formempfangenden und in einen tätigen, form-
gebenden, schöpferischen Geist. Nur dieser ist göttlich, „von
außen" in den Menschen gekommen und kehrt nach dem
Tode des Menschen zu seinem Ursprung zurück.
So umfaßt der Mensch als das höchstorganisierte We-
sen die ganze Stufenreihe der Natur in sich. Er ist Ma-
terie, Pflanze, Tier, Logos und Geist zugleich, und daher
ist er der große Kosmos, der Makrokosmos, noch einmal
im kleinen als der Mikrokosmos, der aber mit einem Teile
seines Wesens sich über die ganze Natur erhebt zum außer
der Welt und über aller Natur stehenden göttlichen
Geist. Wie jedes Wesen seinen Zweck und Sinn durch das
Höchste und Vollkommenste in ihm, durch die Seele, er-
hält, so auch der Mensch. Der Zweck seines Daseins weist
über ihn selbst und über alle Natur hinaus und wird ihm
durch den Geist, das Göttliche im Menschen, gegeben.
Soweit würde sich auch unsere Weltanschauung noch
mit der antiken vereinen und in diesen weit gehaltenen
Rahmen einfügen lassen. Für den religiösen Denker der
Spätantike ist aber damit nur die eine Hälfte der Welt
gegeben. Er fordert die Ergänzung des Stufenreichs nach
der ändern Seite hin über den Menschen hinaus. Der
Mensch umfaßt wohl als Mikrokosmos alle Elemente der
Schöpfung, Körper, Seele und Geist, in sich, aber gerade
deshalb kann er nicht das höchste aller Wesen sein. Über
ihm muß es Wesen geben, deren Seele und Geist nicht
von der Last irdischen Stoffs bedrückt und behindert
werden, reine, körperlose Seelen, und über diesen die
reinen Geister und schließlich den einen vollkommenen
Geist, der der einen Materie, aus der alles wird und ge-
worden ist, als ihr ewig unveränderlicher, dem Werden
nicht unterworfener Gegenpol gegenübersteht.
(Hans Leisegang, a.a.O. 1924/ 1936)
Was ist Gnosis? (Teil 2)

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