Dienstag, 13. Oktober 2009
Himmlische und irdische Liebe: der Leib
"Zum göttlichen Wesen des Menschen gehört auch der Leib.
Man kann die Erotik nicht heiligen, ohne dem Leib eine neue
Würde zu verleihen. Geschlechtlicher Naturalismus und Spiri-
tualismus, so sehr sie sich befehden, machen sich beide der Ver-
achtung des Leibes schuldig. Jener entwertet den Körper, indem
er ihn für etwas rein Stoffliches erklärt, dieser, indem er ihn zu
Geist und Seele in Gegensatz bringt. Aber der Leib ist nicht nur
Stoff, und der Mensch ist nicht nur Geist oder Seele. Der seelen-
los oder entgeistet gedachte Leib ist Schale ohne Kern, Rahmen
ohne Bild, Materie ohne Sinn, und die leiblos vorgestellte Seele
ist ein Schemen, kraftlos im kalten Raum der Geistigkeit. Es be-
darf einer neuen Symbolik des Leibes. Auch der Leib ist ein
Werk Gottes. Gewiß soll er der Seele dienen, aber er soll nicht
unter ihr leiden und nicht von ihr verachtet oder verspottet wer-
den. Es ist ein Verstoß gegen die Schöpfung, den Leib von der
erotischen Wonne auszuschließen, wozu die anbetende Liebe
neigt, im Gegensatz zur umarmenden. In der Geringschätzung
des Leibes ist schon ein Riß zwischen Sexualität und Erotik an-
gelegt. Tizian hat nicht recht, wenn er die himmlische Liebe als
bekleidete, die irdische Liebe als unverhüllte Frau darstellt. Leib-
liche Nacktheit ist kein Merkmal der niederen Liebe — und nicht
der Unheiligkeit. "
(Walter Schubart: Religion und Eros, München 1966 (Org.ausg. 1941))

Himmlische und irdische Liebe: der Leib

... comment